In Eveline Cantienis jüngsten Kohlezeichnungen kulminieren Jahre künstlerisch
konsequenten Schaffens. Wie in einer Zeitkapsel sind im aktuellen Werk bisherige Positionen verdichtet: Die Zeichnung entstand, indem die Künstlerin ein kleines Stück eines Sonnenschutznetzes über einen Hellraumprojektor auf ein an der Wand befestigtes Papier projizierte. An der Wand zeichnete die Künstlerin die dunklen Linien des vergrösserten Netzfragments mit Kohlestift nach. Die Vergrösserung verfremdet das Gewebe: Die Verschlingungen der Nylonfäden werden sichtbar, dazwischen breiten sich Leerräume aus. Den Kohlestaub, den der Stift hinterliess, radierte sie weg, denn sie suchte nicht die schummrige Wirkung
klassischer Kohlezeichnungen, sondern den harten Kontrast zwischen Kohle und Papier. Die Kohle ist hier nicht nur Spur, sie ist Material mit räumlichem Gewicht.
Mit dieser Arbeit ist Cantieni nach einer virtuellen Phase, aber nur vermeintlich zu den Ursprüngen ihres Schaffens zurückgekehrt:
Eines ihrer ersten Arbeiten in den neunziger Jahren bestand aus Kohlezeichnungen auf selbst gestrickter Unterlage. Kohle und Textil sind in der neuen Arbeit als
Reminiszenz vorhanden, aber wiederum völlig anders verarbeitet.
Der Verfremdungseffekt und das Spiel mit Materialien erinnern an die aus Wundpflastern geschaffenen, ins Monumentale gesteigerten Deckchen. Allen Werken gemeinsam ist die Überschreitung herkömmlicher Grenzen künstlerischer Medien in formaler und inhaltlicher Hinsicht. Dabei bricht die Künstlerin die Brücken hinter sich nicht ab: Sie vergewissert sich auf ihrem Weg zu neuen Positionen immer wieder, woher sie kommt.
Dr. Christina Peege, Kunsthistorikerin,
10. August 2019